
Zwischen Anspruch und Realität
👉🏼 Boppard – eine Stadt am oberen Mittelrhein, eingebettet in Weinberge und Romantik, durchzogen von Geschichte, und getragen von dem Anspruch, ein Ort für alle zu sein. Auch für Menschen mit Behinderung. Auch für Menschen wie uns.
Die Rheinwerkstatt Boppard, betrieben von der Stiftung Bethesda St. Martin, versteht sich – laut eigener Aussage und gemäß § 219 SGB IX – als Einrichtung zur Teilhabe. Sie soll „die Entwicklung der Persönlichkeit fördern“ und „einen Beitrag zur Eingliederung in Arbeit und Gesellschaft leisten.“ – sie ist also zuständig für Inklusion in Boppard.
Das steht so im Gesetz. Im 👉🏼 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch. Es klingt wie eine Einladung.
Was uns dort begegnet ist, war jedoch oft das Gegenteil von dem, was dort versprochen wird.
Die Realität war nicht Förderung, sondern Funktion. Nicht Teilhabe, sondern Taktung. Nicht Begegnung, sondern Bürokratie.
Manchmal fragt man sich, ob die offiziellen Leitsätze nicht eher der Imagepflege dienen als der gelebten Praxis.
Denn zwischen den Sätzen der Broschüren und dem, was wir tatsächlich erfahren haben, liegt eine Kluft – nicht aus Beton, sondern aus Ignoranz, aus struktureller Bequemlichkeit, aus einem tief verwurzelten „weiter so“.
Und genau über diese Kluft wollen wir sprechen.
Nicht aus Bitterkeit. Sondern weil wir glauben, dass Inklusion nicht aus PR besteht – sondern aus Haltung. Und aus Verantwortung.
„Es geht nicht darum, was versprochen wurde. Es geht darum, was Menschen erleben.“
🗣 Müselmulm

Erlebte Teilhabe – oder ihr Gegenteil?
Was uns in der Rheinwerkstatt Boppard begegnete, war kein offenes Fenster zur Teilhabe.
Es war ein fest verschlossener Rahmen, in dem man uns bat, zu funktionieren – aber nicht, zu gestalten.
Ich kam mit dem Wunsch, etwas einzubringen: Kreativität, Erfahrung, Ideen – und mit dem Wunsch nach Heilung.
Ich arbeitete mit ganzem Herzen in der Abteilung Werbetechnik, entwickelte visuelle Konzepte, gestaltete Plakate für Veranstaltungen wie beispielsweise das alljährliche Frühlingsfest oder „Die große Bethesda-Benefiz-Schlagergala“.
Ich entwarf, überarbeitete, passte an – mit einem Anspruch, der sich an professionellen Maßstäben orientierte.
👉🏼 Doch die Resonanz war ernüchternd.
👉🏼 Meine Entwürfe verschwanden in der Schublade.
👉🏼 Meine Leistungen wurden umetikettiert.
👉🏼 Meine Initiative wurde ignoriert oder abgewertet.
Mit der Zeit begann ich zu begreifen:
Teilhaben durfte ich formell, nicht inhaltlich.
Gestalten durfte ich nur, wenn es ins Konzept passte.
Und wenn es nicht passte, wurde das Konzept angepasst – aber nicht für mich.
Solche Momente waren keine Einzelfälle. Es waren Mosaiksteine eines Systems, das Partizipation nur dort zulässt, wo sie kontrollierbar bleibt.

Zwischen Beobachtung und Reaktion
Je länger ich in der Werkstatt arbeitete, desto mehr begann ich, die Strukturen zu hinterfragen.
Warum bestimmte Entscheidungen immer „von oben“ kamen.
Warum Vorschläge nur dann willkommen waren, wenn sie niemandem wehtaten.
Warum Kritik als Störung galt – selbst wenn sie sachlich, begründet und konstruktiv war.
👉🏼 Ich begann, Dinge anzusprechen. Kleine Ungereimtheiten. Missstände im Ablauf. Verletzende Sprache. Fehlende Sicherheitsvorkehrungen.
👉🏼 Ich fragte nach Zuständigkeiten. Nach Transparenz. Nach Verantwortung.
👉🏼 Und jedes Mal geschah dasselbe: Ich wurde leiser gemacht. Nicht mit Worten. Sondern mit Schweigen. Mit Nichtbeachtung. Mit Rückzug. Mit der subtilen Botschaft: „So jemand passt nicht.“
Was aus Neugier begann, wurde zur Grenzerfahrung. Nicht, weil ich mich veränderte – sondern weil ich mich nicht mehr angepasst habe.
„Ich sprach nicht lauter. Ich sprach klarer. Und plötzlich war ich zu viel.“
🗣 Müselmulm
SPIEGEL Bestseller von Raúl Aguayo-Krauthausen:
Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.
Wie eine zugänglichere Welt uns alle bereichert.
Warum tun wir uns mit Inklusion so schwer? Was bedeutet Barrierefreiheit eigentlich wirklich? Und wie gehen wir mit unserem eigenen internalisierten und dem Ableismus anderer um?
Ich bin ein aktiver Verfechter von Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen und kämpfe gegen Diskriminierung und für Sichtbarkeit. Nach zwei Jahrzehnten Arbeit in diesem Bereich stelle ich nun erstmals meine Ansichten und Lösungsansätze in meinem neuen Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“ vor.
Inklusion ist ein Menschenrecht, das leider oft vernachlässigt wird. Ich rufe dazu auf, Behinderung als eine Eigenschaft wie die Haarfarbe zu betrachten und fordere ein Umdenken.
In meinem Buch habe ich auch Gespräche mit Expert*innen auf dem Gebiet der Inklusion aufgenommen und biete einen umfassenden Einblick in das Thema sowie Lösungsmöglichkeiten für bestehende Missstände.
Sexualisierte Gewalt durch leitenden Mitarbeiter – und wie die Einrichtung mit Opfern umgeht
Noch gravierender war das, was meiner Partnerin widerfahren ist: Mehrfache sexuelle Übergriff durch einen Mitarbeiter in Leitungsfunktion.
Ein Machtgefälle, das sie lange verschwieg – und welches die Einrichtung später mit Schweigen beantwortete.
Keine Entschuldigung. Keine Begleitung. Keine Mitteilung an die 👉🏼 Meldestelle. Keine Bearbeitung in ihrer Rehabilitandenakte.
Nur ein unsichtbares Echo. – Und eine Wunde, die sie erst Jahre später benennen konnte.
Wenn das „Teilhabe“ ist, dann muss man fragen dürfen: Teil wovon eigentlich?

Systematik statt Einzelfall – Boppard ist kein Sonderfall
Was wir erlebt haben, war persönlich. Aber es war kein Zufall.
Denn je länger wir hinschauten, desto klarer wurde: Das, was uns in der Rheinwerkstatt Boppard begegnete, ist strukturell.
Wir hörten von anderen Betroffenen – nicht nur in Boppard, sondern in vielen Einrichtungen bundesweit.
- Von kreativer Leistung, die abgewertet wurde.
- Von psychischer Belastung, die ignoriert wurde.
- Von sexualisierter Gewalt, die totgeschwiegen wurde.
Und wir fanden Artikel. Reportagen. Recherchen.
Sie alle erzählen dieselbe Geschichte.
- Die ZEIT schrieb über „Schein-Teilhabe in Werkstätten“ – ein Begriff, der erschreckend genau trifft, was vielerorts Alltag ist.
- Der Paritätische Wohlfahrtsverband zeigt in einer 👉🏼 aktuellen Studie, wie das Entgeltsystem in Werkstätten strukturelle Armut zementiert – trotz geleisteter Vollzeitarbeit.
- Die Monitoring-Stelle der UN-Behindertenrechtskonvention mahnt: Deutschland verletzt grundlegende Prinzipien echter Inklusion.
Und wenn das System fast überall dieselben Fehler macht – dann ist nicht der Einzelne das Problem. Dann ist das System das Muster.
In Boppard ist das besonders bitter, weil die Fassade so gepflegt ist. Die Stiftung beruft sich auf christliche Werte, auf Nähe, auf Teilhabe, auf ihren Slogan „Dem Nächsten begegnen“. Doch was wir und andere erleben mussten, zeigt:
👉🏼 Nähe ohne Verantwortung ist keine Hilfe – sie ist Kontrolle.
Wir haben versucht, mit diesem System zu sprechen. Wir haben geschrieben, gefragt, gebeten. Was wir bekommen haben, war das Gegenteil von Dialog. Es war ein funktionales Schweigen.
„Wenn Schweigen zum Werkzeug wird, ist es kein Versehen – sondern Strategie.“
🗣 Müselmulm

Was sich ändern müsste
Ich bin kein Revolutionär.
Ich bin ein Mensch, der einmal geglaubt hat, dass Teilhabe möglich ist.
Und der heute weiß, dass es nicht ausreicht, auf Gesetze zu verweisen, wenn deren Umsetzung vom Wohlwollen Einzelner abhängt.
Ich fordere keinen Applaus. Ich wünsche mir nur eines:
Verantwortung!
Verantwortung heißt:
- Zuhören, wenn Betroffene sprechen.
- Handeln, wenn Strukturen versagen.
- Hinschauen, wenn der Schein trügt.
Ich wünsche mir, dass Einrichtungen wie die Rheinwerkstatt Boppard begreifen:
Wertschätzung lässt sich nicht institutionalisieren.
Aber man kann sie ermöglichen. – Oder verhindern.
Ich wünsche mir, dass kreative Arbeit als solche anerkannt wird – nicht als Beschäftigungstherapie, sondern als Kompetenz.
Dass Menschen, die in Rehaeinrichtungen leben und arbeiten, nicht entmündigt, sondern ernst genommen werden.
Und dass Betroffene von Übergriffen nicht alleine gelassen, sondern begleitet und geschützt werden – ohne Floskeln, ohne Flure, ohne Flüstern.
Ich glaube nicht mehr an das große Umdenken. – Aber ich glaube an die Kraft der Aufklärung. An die Wirkung von Sichtbarkeit. An das stille Gewicht der Worte.
Und vielleicht beginnt Veränderung genau hier. Mit einem Text. Mit einer Stimme. Mit einer Geschichte, die nicht länger verschwinden will.
„Ich will keine Rache. Ich will, dass es sichtbar ist. Und dass es bleibt.“
🗣 Müselmulm