🥂 150 Jahre Bethesda-St. Martin

Illustration einer strengen Ordensfrau mit Stock vor eingeschüchterten Mädchen – satirische Darstellung kirchlicher Heimerziehung

Wie man sich ein Jubiläum schreibt –
und dabei die Geschichte glattbügelt

🕯️ Prolog: Eine Festschrift, viele Fußnoten, noch mehr Schweigen

Im Jahr 2006 veröffentlichte die Stiftung Bethesda-St. Martin zum 150-jährigen Bestehen eine Festschrift mit dem Titel 👉🏼 Zeitreise. Ein chronologisches Erinnerungsalbum, das sich als „Spurensuche“ versteht – aber auffällig wenig Wunden findet.

Dabei ist die Geschichte der Einrichtung nicht nur eine Reise durch Fürsorge und Glaube, sondern auch durch Skandale – etwa in der Rheinwerkstatt Boppard, die später zur Stiftung gehört.

Das Heft erzählt von Nächstenliebe, christlichem Auftrag, Versorgung in Kriegs- und Nachkriegszeiten, von Mitarbeitenden und Meilensteinen.

Kaum erwähnt werden:
Kontrolle, Zwang, Gewalt, Leid.
Jene, die nicht gerettet, sondern gebrochen wurden.

Unerwähnt bleibt:
Wie sich ihre Gegenwart zur Vergangenheit verhält.

📖 Kapitel 1: Vom Magdalenenasyl zur „sittlichen Umerziehung“

Bethesda begann 1855 als Asyl für „gefallene Mädchen“.
Der Begriff allein sagt schon, wo die Reise hinging: nicht zur Befreiung, sondern zur Disziplinierung im Namen der Moral.

Schon früh wandelte sich das Haus zur Fürsorgeerziehungsanstalt für „verwahrloste“ und „sittlich gefährdete“ Mädchen.
Die Sprache der Festschrift legt offen, wie über die Jahrzehnte gedacht wurde: von „Trotz“, „Roheit“ und „Lügenhaftigkeit“ ist die Rede – und davon, dass diese Mädchen zu brauchbaren Gliedern der Gesellschaft geformt werden müssten.

„Ein wichtiges Erziehungsmittel blieb die Arbeit – und wenn unser Haus auch kein Arbeitshaus ist, so ist es doch ein Haus, das die Arbeit wertet.“

Du darfst mit Gott sprechen, solange du danach wieder ordentlich Kartoffeln schälst.

🧬 Kapitel 2: Zwischen Bibel und Biopolitik –
Bethesda in der NS-Zeit

Die Festschrift benennt, dass zwischen 1934 und 1939 insgesamt 79 Mädchen in der Anstalt Bethesda-Boppard zwangssterilisiert wurden. Sie erwähnt auch, dass sich eine Betroffene nach dem Eingriff das Leben nahm.

Eine kritische Einordnung fehlt jedoch weitgehend. Die damalige Oberin Marie Sievers wird mit einem Rückblick aus dem Jahr 1934 zitiert, in dem sie behauptet, das neue Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses sei in Fachkreisen ausreichend bekannt gewesen. Man habe den Mädchen „in der rechten Weise die Aufklärung“ gegeben. Einige von ihnen hätten sich demnach positiv geäußert, andere empfanden das Verfahren als ungerecht.

Die Festschrift verschweigt: Dass es sich um systematische Eingriffe in die körperliche Selbstbestimmung handelte – durchgeführt unter staatlichem Zwang und ideologischer Willkür.

Sie erwähnt nicht, dass diese „Aufklärung“ in einem Umfeld von Machtungleichgewicht und Abhängigkeit stattfand.

Dadurch wird verwischt, dass solche Aussagen rückblickend eher die Perspektive der Institution widerspiegeln – nicht die der Betroffenen.

Wenn du im Chor der Täter mitsingst, darfst du dich später nicht als stillen Zuhörer verkaufen.

🕰️ Kapitel 3: Die Nachkriegszeit – alte Methoden, neue Wörter

Zwischen 1945 und 1977 betreibt die Stiftung weiterhin Heimerziehung. Die Festschrift spricht von „geordnetem Tagesablauf“ und „pädagogischer Arbeit“.

Zeitzeuginnen berichten von konflikthaften, aggressiven Mädchen.
Eine ehemalige Erzieherin beschreibt sie als „bedrohlich“ – mit umgestürzten Möbeln, Wutanfällen, „kaltem Wasser“.

Was fehlt?
Eine Erklärung, warum diese Jugendlichen so reagierten.
Kein Wort über Traumatisierung, Isolation, Gewaltgeschichte.

Die Deutung bleibt beim System – nicht bei den Betroffenen.

🏗️ Kapitel 4: Die 80er/90er –
Bethesda wird Betrieb, nicht Bekennerin

Mit dem Ende der Heimerziehung 1986 verlagert die Stiftung ihr Wirken in die Behindertenhilfe, eröffnet Wohnheime, Werkstätten, Tochtergesellschaften.

Die Festschrift schildert das als Erfolgsgeschichte.
Was fehlt: ein kritischer Blick auf Strukturen, Machtverhältnisse, Nähe-Distanz-Probleme.

Es ist die Phase, in der sich die Stiftung „modernisiert“ – aber nicht reflektiert.

Ein Satz wie:

    „Die Heimerziehung hatte sich überlebt.“

lässt offen, ob sie auch als Unrecht erkannt wurde.

⚠️ Kapitel 5: Und dann? 2006 – Die große Selbstfeier

Mitten in der wirtschaftlichen Schieflage erscheint die Festschrift. Bethesda war zu schnell gewachsen, hatte über Bedarf gebaut, fast Insolvenz erlitten.
Ein Sachverwalter musste die Stiftung 2005 sanieren.

Doch in der Festschrift wird gefeiert.
Man feiert sich für 150 Jahre Engagement, Fürsorge, Glauben, Arbeit.
Man feiert sich an den Betroffenen vorbei.

Es gibt keinen kritischen Rückblick auf die eigenen Fehler.
⇒ Eine Entschuldigung bleibt aus.
⇒ Gedenken? Fehlanzeige.
⇒ Zur Zwangssterilisation: kein Wort auf dem Titelblatt.
⇒ Institutionelle Gewalt nach 1945? Wird nicht thematisiert.

🎯 Kapitel 6: Und heute, 2025?

2016 erlebt meine Partnerin Janina sexualisierte Gewalt durch einen Mitarbeiter der Rheinwerkstatt Boppard – einer Einrichtung der Stiftung.

Die Reaktion?

    ⇒ Es gab kein Gespräch.
    ⇒ Hilfe blieb aus.
    ⇒ Aufarbeitung fand nicht statt.
    ⇒ Die gesetzlich vorgeschriebene Meldung an die FUVSS? – Fehlanzeige.
    ⇒ Nicht mal ein Vermerk in ihrer Rehabilitandinnen-Akte.

Nur Schweigen. Wieder einmal.

Besonders bitter: Im Februar 2025 wandten wir uns direkt an den Stiftungsrat – mit klarer Dokumentation, sachlich, begründet, auf Augenhöhe. Die Antwort des Vorsitzenden, 👉🏼 Pfarrer Rolf Stahl ?

    ⇒ Fünf Sätze.
    ⇒ Kein Gesprächsangebot.
    ⇒ Keine Frage.
    ⇒ Kein Mitgefühl.
    ⇒ Nur eine Floskel:

      „Die Stiftung habe seinerzeit zuständige Behörden informiert.“

Welche Behörden, bleibt bis heute unklar.
Die FUVSS – die eigentlich zuständige Stelle für sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der 👉🏼 Diakonie RWL – wurde jedenfalls nicht informiert.

Und das ausgerechnet von einem Mann, der 2024 noch in einem Interview sagte:

„Macht über andere ist immer ein Eintrittstor für Unrecht und Gewalt.“

🖤 Müselmulms Fazit:

Eine Festschrift, die feiert, wo sie erinnern müsste.
Eine Stiftung, die organisiert, wo sie eigentlich aufarbeiten müsste.
Eine Geschichte, die weitergeht – weil sie nie wirklich aufgearbeitet wurde.


    Darum gibt es diesen Beitrag.
    Deshalb existiert Müselmulm.
    Weil Geschichte nicht endet, wenn man sie ignoriert.
    Sondern nur, wenn man sie erzählt – mit allen Wunden.


Danke, dass du hier bist.
Und danke, dass du nicht vergisst,
dass du dich nicht zum Schweigen bringen lässt.

📚 Quellenverzeichnis zur Festschrift
„Zeitreise – 150 Jahre Stiftung Bethesda-St. Martin“ (2006)

1. Zur Gründung als „Asyl für sittlich gefährdete Mädchen“ & Fürsorgeerziehung:
– Beschreibung des frühen Stiftungszwecks, historische Einordnung der Zielgruppen, Sprachgebrauch zur „Verwahrlosung“ und „Umerziehung“
Seiten 10, 12–15

2. Zitate über „Trotz“, „Roheit“, „Lügenhaftigkeit“ und Arbeit als Erziehungsmittel:
– Zuschreibungen an Mädchen im historischen Rückblick, Bedeutung von Arbeit im pädagogischen Kontext
Seiten 7, 22, 29, 41

3. Zwangssterilisationen 1934–1939 & NS-Zeit:
– Fallzahlen, Darstellung einzelner Betroffener, Einordnung durch die Einrichtung
Seiten 31–33

4. Zitat der damaligen Oberin zur „Überzeugung“ der Mädchen:
– Originalzitat zur angeblich freiwilligen Zustimmung der Betroffenen zur Sterilisation
Seite 31–32

5. Heimerziehung Nachkriegszeit bis 1977 & Erfahrungsberichte:
– Berichte über „auffällige“ Mädchen, Maßnahmen der Disziplinierung, Rückblick durch ehemalige Mitarbeiterinnen
Seiten 4, 26, 32, 40–41

6. Stiftungsentwicklung 1980er/90er – neue Arbeitsfelder, keine kritische Aufarbeitung:
– Übergang zur Behindertenhilfe, Aufbau von Werkstätten und Wohnheimen, Darstellung der Expansion
Seiten 8, 54, 57

7. Wirtschaftliche Krise der Stiftung um 2005:
– Überforderung durch Wachstum, Beinahe-Insolvenz, Bestellung eines Sachwalters, Bilanz im Jubiläumsjahr
Seiten 4–5, 38

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